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Autor Thema: Hartz-IV Rebellin kämpft im Bundestag  (Gelesen 4032 mal)
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YrWyddfa
Gast
« am: 16.09.2014 - 09:46:01 »

Zitat
Hartz-IV-Rebellin kämpft im Bundestag

Von Julian Vetten

Wie muss das wohl sein, gar nichts zu haben? 12.000 Langzeitarbeitslose pro Monat machen diese Erfahrung in Deutschland, weil das Jobcenter Sanktionen gegen sie verhängt. Inge Hannemann findet diese Praktik entwürdigend - und zieht gegen ihren ehemaligen Arbeitgeber ins Feld.

Inge Hannemann hat mindestens 850 spannende Geschichten auf Lager - und täglich werden es mehr. Das ist die Zahl der "krassen Fälle", die die Jobcenter-Mitarbeiterin aus den tausenden Mails gefiltert hat, die seit ihrer inoffiziellen Krönung zur Hartz-IV-Rebellin im vergangenen Jahr im Postfach der 45-Jährigen eingetrudelt sind. Es geht um menschliche Schicksale, um Abgründe und die Angst vor der bürokratischen Mensch-Maschine namens Jobcenter. Vor dem Petitionsausschuss im Deutschen Bundestag, in dem Hannemann stellvertretend für die 92.000 Mitunterzeichner ihrer Eingabe für die Abschaffung von Sanktionen gegen Langzeitarbeitslose werben will, erzählt sie nur eine. Die hat es dafür in sich.

"Ganz aktuell treibt mich der Fall eines Diabetikers um", beginnt Hannemann. "Der Mann ist zwar hochqualifiziert, hat aber einen Behinderungsgrad von 90 (von 100, Anm. d. Red.). Trotzdem sollte er eine Stelle als Lagerlogistiker antreten, was körperlich für den Mann fast unmöglich wäre - noch dazu bei einem Stundenlohn von fünf Euro brutto. Er hat abgelehnt - was ich absolut nachvollziehen kann - und wurde in der Folge voll sanktioniert." Was das heißt, erklärt Hannemann stante pede: "Sperrung sämtlicher geldwerter Leistungen inklusive der Miete. Der Mann bekommt also gar nichts mehr. Was schon gesunde Menschen verzweifeln lässt, wird bei dem Diabetiker zur existenzbedrohenden Katastrophe: Denn wer nicht zumindest einen Euro an Geld- oder Sachleistungen bekommt, hat auch keinen Anspruch auf eine Krankenversicherung. Und wovon sollte der Mann sein Insulin selbst bezahlen? Er hat mich dann gefragt, ob ihm denn wirklich kein anderer Weg außer dem Suizid bleibt."
"Depression, Sozialphobie, egal"

Was die einstige Jobcenter-Mitarbeiterin im berstend vollen Europasaal im Deutschen Bundestag erzählt, ist vielleicht nur das negative Extrembeispiel für eine Verkettung tragischer Umstände und Verfehlungen sowohl von Seiten des Jobcenters als auch des Arbeitssuchenden. Aber abgesehen davon, dass "so etwas in einem so reichen Sozialstaat heutzutage einfach nicht mehr passieren darf" ist die Geschichte beileibe kein Einzelfall. 11.000 bis 12.000 Vollsanktionen verhängen Deutschlands Arbeitsvermittler jeden Monat - und zwar, "ohne dabei auf die Menschen zu schauen", wie Hannemann sagt. "Depression, Sozialphobie, egal: Man sieht nur, der Kunde ist nicht gekommen."

Das Bild, das die Hartz-IV-Rebellin von ihrem Arbeitgeber zeichnet, ist das von einer zutiefst entmenschlichten Behörde. "Tatsächliche Hilfe können wir nicht leisten - und das sollen wir auch g ar nicht", sagt Hannemann. Stattdessen stünden die Lektüre und das Auswendiglernen stetig neuer Vorschriften auf dem Programm. Bis zu 900 Weisungen, in denen jedes kleinste Detail normiert und reglementiert wird, bekämen die Mitarbeiter jedes Jahr, sagt Hannemann. Eine absurd hohe Zahl, die aber wohl nur jene verwundert, die noch nie Bekanntschaft mit der lebensfernen Regulierungswut einer deutschen Behörde gemacht haben. "Zeit für die Bedürfnisse der Menschen - und darum sollte es in unserem Job doch eigentlich gehen - bleibt da nicht", klagt Hannemann. Stattdessen nähmen die Jobcenter die Rolle eines paternalistischen Erziehungsstaates ein. Dem Altonaer Jobcenter schmeckte so viel Renitenz ganz und gar nicht. Seit dem vergangenen September ist die unbequeme Mitarbeiterin freigestellt.
Demonstranten erinnern am Rande des Petitionsausschusses an die tragischen Schicksale von Langzeitarbeitslosen, die sich nicht mehr zu helfen wussten.
Demonstranten erinnern am Rande des Petitionsausschusses an die tragischen Schicksale von Langzeitarbeitslosen, die sich nicht mehr zu helfen wussten.

"Die hat ja keine Ahnung, wie das im Jobcenter läuft"

Aber wie wolle man ohne Sanktionsmöglichkeiten denn bitteschön dafür sorgen, dass die Hartz-IV-Empfänger überhaupt zu Terminen erscheinen oder ihre Unterlagen einreichen, fragt Gabriele Lösekrug-Möller. Die SPD-Politikerin ist Staatssekretärin im Arbeitsministerium und der komplette Gegenentwurf zu Hannemann. Wer Lösekrug-Möller zuhört, bekommt eine Vorstellung davon, warum Briefe in Beamtendeutsch so formuliert sind, wie sie sind. Für die Staatssekretärin zählen vor allem Vorschriften, Regeln und Normen - kaum vorstellbar, dass sie vor ihrer Zeit im Ministerium mal Sozialarbeiterin war. "Die hat ja keine Ahnung, wie das im Jobcenter läuft", raunt es während ihres Vortrags von der Tribüne. Und tatsächlich ist Lösekrug-Möllers Lebenswirklichkeit unendlich weit von der ihrer Klienten entfernt.

Der Gang zum Jobcenter kann bereits für Menschen mit einem gesunden Selbstwertgefühl zu einer einschüchternden Erfahrung werden, sagt Hannemann. Dass selbiges bei den meisten Langzeitarbeitslosen nicht allzu ausgeprägt ist, ist nur nachvollziehbar - doch gerade denen, die am meisten Hilfe bräuchten, würden nur noch zusätzliche Steine in den Weg gelegt, klagt die ehemalige Jobcenter-Mitarbeiterin. "Zeit für die Menschen und vor allem Empathie ist der Schlüssel, um Missbrauch zu verhindern", beantwortet sie Lösekrug-Möllers Frage nach der Alternative zu Sanktionen.

"Das geht schon bei den unverständlichen Ersteinladungen los, die bereits mit einer Drohung im Gepäck ankommen. Wie soll ich denn damit Vertrauen aufbauen?", fragt Hannemann. Die Briefe hätten eine abschreckende Wirkung, viele Hartz-IV-Empfänger trauten sich da erst gar nicht aufs Amt. "Ich hab dann mal versucht, das anders zu formulieren, als nettes Kennenlerngespräch. Keine Ahnung, ob das der Norm entsprach, aber die Erfolgsquote lag bei 100 Prozent."
"Weil wir rechtswidrig handeln!"

Empathieschulungen statt Weisungslektüre und "Sanktionsregime" sind nach Hannemanns Meinung ein wichtiger Baustein auf dem Weg zur menschlichen und erfolgreichen Arbeitsvermittlung. Und wenn es nur dazu beiträgt, den Verwaltungswahnsinn zu reduzieren: "Wir verhängen eine Million Sanktionen im Jahr, jede davon kostet optimistisch geschätzt eine halbe Stunde Arbeitszeit", rechnet Hannemann vor. "Das heißt, 272 Mitarbeiter sind nur mit Sanktionen beschäftigt. Das kostet pro Jahr mindestens zehn Millionen Euro." Geld, das nach Hannemanns Meinung anderswo besser aufgehoben wäre - zumal die Hälfte der Verfügungen ohnehin wieder von den Sozialgerichten kassiert würde: "Weil wir rechtswidrig handeln!"

Als die Vorsitzende des Petitionsausschusses nach einer guten Stunden die Diskussion für beendet erklärt, gehört das Schlusswort der renitenten Jobcenter-Mitarbeiterin: "Ihr wart fabelhaft!", ruft Hannemann dem bunt gemischten Publikum auf der Tribüne zu. Und im Übrigen gehe es ihr gar nicht nur um die Sanktionen. "Mein Grundanliegen ist die Abschaffung von Hartz IV." Obwohl offene Beifallsbekundungen eigentlich strikt untersagt sind, gibt es auf den Rängen nun kein Halten mehr. Standing Ovations und lauter Jubel reißen die Abgeordneten unten im Sitzungssaal aus ihrem Dämmerschlaf. Verwundert gucken sie nach oben und wissen: Das ist kein Thema, das man noch aussitzen könnte - und Inge Hannemann hat jetzt schon gewonnen.

Quelle: n-tv.de
« Letzte Änderung: 16.09.2014 - 09:47:49 von YrWyddfa » Gespeichert
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